Kontrolle oder Freiheit?

Ein tolles Team

Das andere Team lief ohne Leine. Ein Goldie, offenbar ein hübscher Kerl, mit hoch erhobener Rute, die wie eine wehende Fahne seinen Standort zu markieren schien, lief mal neben seinem Menschen und mal weit voraus. Wow, sogar über die vielbefahrene Straße gingen die beiden, ohne dass der Mensch seinen Hund angeleint hat. Auf der anderen Seite durfte der Hund sofort wieder weit vor laufen, obwohl dort nur ein ganz schmaler Fußweg direkt neben der Straße verläuft.

Wann immer der Hund etwas genauer untersuchen wollte, blieb die Bezugsperson stehen. Ging der Hund weiter, folgte der Mensch.

An einem Kreisel konnte ich sehen, dass der Mensch seinem Hund etwas zu Fressen gab, als sie sich vor der Straße sortierten, um sie gemeinsam zu überqueren.

So beobachtete ich die beiden, und sann über diese Harmonie nach. Wie schön, so ein Team zu sehen!

Und ein bisschen Neid mischte sich auch hinein. Nie würde ich den Mut aufbringen, Grace an einer Fahrbahn frei laufen zu lassen. Selbst wenn sie ein ganzes Jahr lang keinem Blatt mehr hinterher jagen würden, hätte ich doch das Gefühl, sie könnte es plötzlich wieder tun.

Ist es ohne Leine besser? Wie viel Kontrolle ist gut?

Mir wurde klar, dass genau diese Frage, wieviel Kontrolle gut ist, so gar nicht zu beantworten ist. Es kann keine Regel dafür geben, denn jeder Mensch und jeder Hund ist verschieden. Es gibt keine zwei Lebewesen, die tatsächlich komplett gleich sind.

Abgesehen davon reagieren wir nicht immer komplett gleich. Wenn ich heute gerade besonders ängstlich bin, kann ich morgen viel lockerer sein. Und umgekehrt.

Mein Hund kann heute hoch konzentriert sein, und ich habe viel Vertrauen in sein überlegtes Handeln und unsere aufgebauten Signale, und morgen scheint er total unausgeglichen und unkonzentriert zu sein.

Höre auf dein Bauchgefühl

Darum gilt für mich die Regel: Höre auf dein Bauchgefühl. Egal was mein Kopf sagt – wenn der Bauch gerade anderer Meinung ist, und mehr Kontrolle verlangt, dann gehe ich lieber auf Nummer sicher.

Gar nicht selten hat mir das scheinbar zufällig geholfen: Es gab plötzlich Wild, oder ein Mensch / Hund / Auto kam unversehens und schnell in unsere Richtung.

Eine gut funktionierende Intuition weiß eben oft mehr als uns bewusst ist. Da reagiert das Unterbewusstsein, und das ist gut so.

Denke an die Risiken

Allerdings finde ich ein Nachdenken auch sehr wichtig. Niemand sollte einfach so davon ausgehen, dass irgendein Hund Verkehr oder eine Bahnlinie als solche versteht und von selbst weiß, wie er sich zu verhalten hat.

Es gab schon genug Hunde, die eine Spur oder ein Blatt im Wind verfolgt haben, und auf einmal mitten auf der Straße oder auf einem Bahngleis standen. Ein Glück, wenn dann gerade nichts kommt…

Hunde sind Hunde

Hunde leben in ihrer Hundewelt. Sie kennen keine Verkehrsregeln, wissen nicht, dass Autos nicht halten und wie schnell ein Zug herankommen kann. Ihnen sagen die Bahngleise nichts, und genauso wenig unterscheiden sie ohne Training zwischen dem Fußweg und der Fahrbahn.

Sie gehen ihren Bedürfnissen nach, ohne über die Risiken der heutigen Umwelt nachzudenken. Das können sie definitiv nicht.

Ihre Impulskontrolle ist in vielen Fällen nicht hoch genug, um zu reflektieren, dass der Sprung auf die Straße jetzt keine gute Idee ist. Sie springen einfach, ohne an unser Training zu denken, wenn der Reiz nur groß genug ist.

Mehr über Impulskontrolle findest du hier: Was du über Impulskontrolle wissen musst

Warum können es manche Hunde trotzdem?

Manche Hunde können es trotzdem, weil viele Dinge in ihnen zusammentreffen, die eine positive Wirkung haben. Sie sind vielleicht Hunde, die seit ihrer Geburt schon eher zu den ruhigen, überlegenden Individuen gehören. Ihre Menschen haben ihnen geholfen, so entspannt zu bleiben und sich auch so weiter zu entwickeln, dass sie bestimmte Dinge ganz sicher gelernt haben.

Hunde können zum Beispiel lernen, am Kantstein anzuhalten. Besonders auf einer bestimmten Gassistrecke kann man sehr gut solche festen Rituale einbauen, die immer gleich ablaufen. Verstärkt durch passende Belohnungen wird das Anhalten vor der Straße dann tatsächlich ziemlich sicher gezeigt.

Aber was passiert, wenn kein Kantstein vorhanden ist? Wenn einfach ein Teerweg in eine größere Straße mündet? Dann hat der Hund keinen optischen Reiz für sein Verhalten und wird vermutlich die Straße ohne zu warten überqueren.

Nicht jeder Hund hat eine niedrige Reizschwelle für bewegte Reize. Manche Hunde interessieren sich überhaupt nicht dafür, wenn Blätter oder Papier im Wind herumfliegen. Andere, wie zum Beispiel meine Grace, sind wie elektrisiert und brauchen Minuten, bis sie wieder normal reagieren können.

Stopp-Signale

Wer ein gutes Stopp-Signal aufbaut, kann auch zu einer hohen Wahrscheinlichkeit auf das Verhalten seines Hundes vertrauen. Aber genügt es immer?

  • Kann dein Hund es, wenn er eine Katze sieht auf der anderen Straßenseite?
  • Kann er es, wenn ein anderer Hund vorbei geht?
  • Kann er es, wenn Kinder rennen oder der Hase aufspringt?

Diese Überlegungen solltest du dir machen, um dich in allen Situationen bestmöglich zu entscheiden.

Außer einem direkten Stopp-Signal, das für ein schlichtes, aber promptes Stehenbleiben steht, kannst du auch ein sicheres Sitz-Signal aufbauen. Manche Hunde können leichter sitzen bleiben, andere stehen lieber und können das auch ziemlich sicher lange genug zeigen.

Natürlich funktioniert auch ein Rückruf, um deinen Hund vor einer Straße zu stoppen und gegebenenfalls anzuleinen.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass du einen Handtouch abfragst. Diese Art der freundlichen Kontaktaufnahme macht vielen Hunden großen Spaß, und wird häufig auch bei Ablenkung sicher gezeigt. Wie immer hängt es natürlich vor allem von einem guten Aufbau ab.

Sogar ein Suchsignal kann helfen. Du kannst ein spezielles Signal aufbauen, das die Bedeutung hat: „Komm her und suche direkt vor meinen Füßen nach Futter“.

Bei mir ist das das ganz normale „Such“. Ich könnte also Grace vor der Straße mit „Such“ zu mir holen, sie sammelt Futter auf, und ich könnte sie in Ruhe anleinen.

Es gibt noch viel mehr Möglichkeiten. Jeder Trick, der mit dir zu tun hat, kann funktionieren. Pfote auf den Schuh stellen. Einparken zwischen deinen Beinen. In die Fuß-Position kommen. Kinn auf deine Hand legen, etwas apportieren und dir geben. Alles, was den Hund zu dir führt, und dir die Zeit gibt, ihn entweder anzuleinen oder bei dir zu behalten über weitere Signale ist möglich.

Wie du solche Signale aufbaust, liest du hier: So baust du Signale auf

Freiheit

Freilauf ist für die meisten Hunde vermutlich sehr hochwertig, und so oft es geht sollten wir es unseren Hunden ermöglichen, frei zu rennen, zu schnüffeln, und einfach Hund zu sein.

Aber wir sind nicht darauf angewiesen. Das Team vor mir, das ich heute so schön beobachten konnte, zeigte ein Verhalten, das weitgehend auch an der Leine möglich gewesen wäre. Der Mensch hielt an, wenn der Hund etwas Interessantes gesehen oder gerochen hat.

Das ist auch eine Form der Freiheit. Nur weil wir unseren Hund hier und da an der Leine führen müssen, heißt das nicht,  dass wir auch verlangen müssen, dass er einfach nur mit uns mit läuft ohne nach rechts und links zu schauen. Wir dürfen ihn auch an der Leine Hund sein lassen. Freiheit ist nicht nur die Freiheit von der Leine, sondern auch erlaubte Freiheiten an der Leine.

Du musst dich also nicht schämen vor deinem Hund und schon gar nicht vor anderen Menschen, wenn ihr mit den Signalen noch nicht so weit seid, dass du Vertrauen hast und Freilauf gewähren und verantworten kannst. Gib ihm dann ausreichend Freiraum an der (möglichst langen) Leine, und gib ihm Zeit, sich mit seiner Umwelt zu beschäftigen.

Dein Hund zieht immer? Lies diesen Artikel: 4 wichtige Punkte, mit denen dein Hund das Gehen an lockerer Leine lernt

Kontrollzwang

Ich will nicht verheimlichen, dass es auch Menschen gibt, die einen gewissen Kontrollzwang haben. Damit meine ich, dass sie innerlich erwarten, ein Lebewesen sozusagen fernsteuern zu können.

Ich kenne jemanden, die bei ihrem ersten Hund große Schwierigkeiten mit selbstständigem Verhalten hatte…das war ich.

Ich musste es erst lernen, dass es Ok ist, wenn Charly mal kurz startet, und eine Runde durch den Wald rennt. Ich wollte eigentlich, dass der sich etwa alle 20 Sekunden nach mir umschaut, und am besten keinen Schritt zu schnell oder zu weit geht. Ich wollte, dass er sofort auf dem Weg läuft, wenn ich es sage, dass er sofort anhält, wenn ich es sage…ich wollte tatsächlich einen ferngesteuerten Hund.

Nach und nach wurde mir das bewusst, und ich habe daran gearbeitet, Charly mehr Freiheit zu schenken. Ich musste lernen, ihm zu vertrauen. Das Schöne war, dass es immer einfacher wurde, je mehr ich ihm vertraut habe.

Hunde haben ein feines Gefühl für uns und merken, wenn wir ängstlich und verkrampft sind. Wer seinen Hund sofort ruft, sobald er in Trab fällt, tut sich keinen Gefallen…

Welpen folgen ihrem Menschen zum Beispiel sehr gut, so dass man sie in einem ungefährlichen Umfeld gut frei laufen lassen kann. So lässt sich der Rückruf ganz einfach und spielerisch aufbauen, indem man sich rückwärts gehend bewegt und seinen Welpen dabei freundlich ruft. Ist er da, wird natürlich gefeiert!

Auch erwachsene Hunde lernen auf diese Weise den Rückruf – man muss nur Gelegenheiten schaffen, dass sie ihn lernen können.

Fazit: Kontrolle oder Freiheit?

Kontrolle ist gut und wichtig. Wo es gefährlich ist für den Hund, sollte man seinen Hund besser anleinen. Wenn der Hund selbst gefährlich ist, sollte man das Tragen eines Maulkorbs aufbauen und nutzen, und am besten zusätzlich den Hund anleinen.

Eine Leine zu benutzen steht einem guten Training nicht im Wege, im Gegenteil. Mit Leine gesichert kann man ganz entspannt üben, an Straßen zu stoppen, auf Signal zu sitzen oder nach einem „Such“ die Futterbröckchen vor den Füßen der Bezugsperson aufzusammeln.

Freiheit ist ebenfalls gut und wichtig. Freiheit zu geben muss manchmal gelernt werden. Dem einen fällt es leichter, dem anderen schwerer. Erkenne, zu welcher Kategorie du eher gehörst. Und ermutige dich, auch mal anders zu handeln.

Die Freiheitsfreaks können lernen, ein wenig mehr auf die Gefahren zu achten, und vielleicht hier oder dort einmal mehr auf Nummer sicher zu gehen. Auch zum Beispiel, um einfach mal ihrem Gegenüber zu signalisieren, dass alles sicher ist – anderen Menschen, die vielleicht Angst vor Hunden haben, Mensch-Hund-Teams mit Problemen bei Hundebegegnungen…

Die Kontrollfreaks können lernen, ein wenig von ihrer Kontrolle aufzugeben, und dem Hund Vertrauen zu schenken.

Training für mehr Freiheit

In kleinen Schritten kann man sich leicht verändern. Mute dir nicht zu viel zu, sondern bleibe immer auf der sicheren Seite. Wenn du Kontrollverlust spürst, geht es dir nicht gut, und dein Hund wird genau das tun, wovor du Angst hast.

Es ist wichtig, sich gut, sicher und stark zu fühlen. Du kannst dir am besten genau das Verhalten vorstellen, das dein Hund zeigen soll. Stelle dir das gute Verhalten vor, das du dir im Freilauf wünschst. Das was du denkst, das ziehst du an. Es ist, als ob dein Hund Gedanken lesen könnte, und auf einmal genau das macht, was du gerne hättest.

Natürlich solltest du trotzdem noch trainieren, was du möchtest! Nur vorstellen reicht nicht aus. Aber beides zusammen ist unschlagbar.

Du trainierst also in Ruhe die Signale, die du benötigst. Nach und nach wird schon alleine davon dein Vertrauen wachsen, dass dein Hund gut reagiert. Und wenn alles gut geübt ist, und du dich traust, jetzt auch mal die Leine loszumachen, denkst du positiv, und malst dir das gewünschte Resultat genau aus.

Realistische Einschätzung

Bleibe bei der Einschätzung deines Hundes stets realistisch. Einerseits macht kein Hund alles falsch. Jeder hat seine Stärken, und die solltest du erkennen und nutzen. Andererseits gibt es Hunde, die trotz guten Trainings in bestimmten Situationen nicht vollkommen sicher reagieren können.

Ich werde Grace niemals an viel befahrenen Straßen frei laufen lassen, oder direkt an Bahnlinien. Ebenso lasse ich sie nicht an reißenden Gewässern frei, denn sie kann vielleicht nicht einschätzen, wie stark das Wasser ist. Und sie liebt Wasser…

Ich werde weiterhin darauf achten, dass Grace durch ihr Verhalten kein Wild gefährdet, und wenn ich merke, dass sie für „guten Gehorsam“ zu aufgeregt ist, leine ich sie lieber an, als etwas zu riskieren.

Andererseits kann man nie alles garantieren. Es ist schlicht unmöglich, an alles und jedes zu denken, und immer die richtige Intuition zu haben oder die passende Entscheidung zu fällen. Ich als eher Kontroll-süchtige Hundehalterin kann mich aber immer wieder mal locker machen und sagen: „Lauf frei und genieße dein Hund-Sein!“ Je mehr ich es tue, um so gelassener wird Grace. Auch das ist eine Botschaft.

 

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