„Anti“-Jagd-Training?
Wildparty
Es begann sofort auf den ersten Metern. Sämtliche Tiere des Waldes müssen letzte Nacht bis in die frühen Morgenstunden Party gefeiert haben. Und zwar genau auf unserem Weg und rechts und links davon. Ich habe meinen Hund noch nie so aufgeregt gesehen, und das soll was heißen! Sie konnte mir keine Millisekunde ihre Aufmerksamkeit schenken, sondern musste alle ihre Sinne einsetzen, um diese wundervollen Gerüche zu inhalieren, zu verfolgen und nach Wild Ausschau zu halten.
Die Leine war immerzu angespannt, Grace stemmte ihr ganzes Körpergewicht hinein, weit nach vorne gedehnt. Normalerweise halte ich an, wenn die Leine gestrafft ist, oder gehe sogar zurück. Grace kann dann von selbst die Leine lockern oder geht mit mir zurück, schüttelt sich und achtet danach besser auf das Ende der Leine. In dieser Situation änderte mein Stehenbleiben nichts an der Spannung, weder an der von Grace, noch an der Leinenspannung.
Blieb ich stehen, schnüffelte sie seitlich neben dem Weg alles ab. Mit Stopp und Go ging es vorwärts, und ich hoffte, dass die Gerüche gleich verschwinden würden. Das taten sie aber nicht.
Jagdhund, der an der Arbeit gehindert wird
Grace stand da und schaute angespannt in den Wald. Minutenlang standen wir dort, ich sagte mein „scan“ und lobte sie für das Stehenbleiben. Dann begann sie zu bellen, ich sah zwar nichts, aber ich wusste, dass sie etwas sah. Jetzt musste ich alle Kraft aufwänden, um sie noch halten zu können. Bauchmuskeln anspannen, beide Hände fest um die Leine geschlossen, Ausfallschritt und schön fest stehen.
Grace sprang hin und her, ruckte an der Leine, sprang bellend um mich herum und war außer Rand und Band. Ich konnte nichts weiter tun, als zu versuchen, sie zu halten und abzuwarten. Sie schrie inzwischen, das war kein Bellen mehr. Die Frustration, dass sie den Hasen oder was da weg sprang, nicht hetzen durfte, musste raus. Sie ist nun mal ein Jagdhund, und ich hinderte sie gerade daran, genau das zu tun, wozu sie eigentlich geboren wurde.
Nach einer Weile taten mir die Hände weh, und ich wollte nicht mehr. Aber Grace konnte sich nicht beruhigen. An normales Gehen war nicht zu denken, sie zog noch immer mit aller Kraft an der Leine, und turnte oft direkt vor meinen Füßen herum, so dass ich dauernd aufpassen musste, ihr nicht in die Hacken zu treten oder selbst zu fallen. Ich wusste jetzt, dass ich zurück gehen musste. Da wir nur ca. 400m vom Auto entfernt waren, war das machbar.
Grace konnte aufgrund der starken Gerüche keine Ruhe finden, und ich musste mit ihr zuerst diese starken Gerüche verlassen, bevor ich an irgendwas anderes denken konnte. Also machte ich weiter den „Hunde-Halter“: Ich hielt die Leine fest mit beiden Händen und ging langsam den Weg zurück, wobei ich anfangs noch sehr oft anhalten musste, um uns neu zu sortieren.
Nach ein paar Metern wurde es soweit besser, dass ich sie mit einer Hand festhalten konnte, obwohl noch lange nicht an eine lockere Leine zu denken war. Die Nase war fast nur unten, außer die Momente, wo sie in den Wald schaute, um vielleicht flüchtende Tiere zu entdecken.
Ich wusste noch nicht, ob ich überhaupt mit ihr noch arbeiten könnte, oder ob die Anspannung bis zum Auto anhalten würde. Notfalls würde ich versuchen, sie am Auto etwas zu entspannen und einfach wieder nach Hause fahren.
In den Denkmodus bringen
Kurz vor dem Auto wurde Grace zunehmend entspannter. Der Zug ließ nach, und plötzlich merkte ich, dass sie wieder ansprechbar war. Ich versuchte, ob Grace einen Handtouch ausführen konnte. Ja! Und das tollste war, sie konnte sogar Futter annehmen. Als nächstes probierte ich es mit unserem häufig geübten Blickkontaktsignal – und auch das funktionierte! „Hey, wie großartig ist das denn?“ dachte ich mir.
Ich sorgte dafür, dass ich Grace hochwertig mit Futter belohnte, und fragte mehrmals den Blickkontakt ab. Das Futter warf ich zunehmend weit weg von mir, so dass sie sich endlich wieder etwas freier bewegen konnte. Zuvor musste ich sie aus Kraftgründen an sehr kurzer Leine führen.
Sie nahm das Wurfspiel dankbar an und sprang fröhlich nach den Wursthäppchen. Ich war so stolz auf sie! Futter nehmen und Blickkontakt schenken – das war wie Weihnachten.
Nun wollte ich mich zurück an die Gerüche bewegen, aber nicht schnurstracks hin sondern in kleinen Etappen. Dazwischen fragte ich sie immer wieder nach dem Blickkontakt. Sie konnte ihn mir erstaunlich lange zeigen und die Leine war auch locker. Sie schnüffelte immer noch interessiert an den Spuren, aber deutlich weniger vehement.
Erst als wir etwa dort ankamen, wo sie geschrien hatte, weil das Tier sich gerade aus dem Staub machte, wurde es wieder stärker. Also ging ich noch mal ein kleines Stück zurück, und bekam was ich wollte: einen Blickkontakt. Zur Belohnung ging ich mit ihr wieder in die Richtung.
Jetzt setzte ich alles auf eine Karte: Ich wusste, dass das U-Turn-Signal für sie eine Belohnung an sich darstellt, und so wollte ich sie doppelt belohnen für ihre Zusammenarbeit mit mir. Etwas an ihrer Art, wie sie sich bewegte, sagte mir, dass das funktionieren musste. Und richtig, Grace reagierte schnell und perfekt, und ich konnte mit ihr ein paar Schritte rennen, sie füttern und danach schickte ich sie buddeln. DEN Blick hätte ich filmen müssen!
Sie schaute mich mit einer Mischung aus übergroßer Freude und Ungläubigkeit an. Ich wiederholte die Aufforderung: „Buddeln!“ und sie sprang mit einem Satz in den Waldboden und begann wie wild zu graben. Es bot ihr ein Ventil für die aufgestauten Jagdimpulse.
Warum ich nicht einfach „Nein, Aus, Pfui“ schreie
Warum unterbinde ich das Jagdverhalten denn nicht einfach? Warum kann ich keine Grenzen setzen? Warum habe ich so wenig Kontrolle über meinen Hund, dass der mich mit seinem Verhalten am entspannten Spaziergang hindern kann? Da muss man doch einfach mal durchgreifen!
Vermutlich denken ziemlich viele Menschen so oder so ähnlich. Mir ging das vor 16 Jahren auch nicht anders. Ich erinnere mich, wie ich todeserschrocken war, weil ein Hase davon hoppelte und Charly mich mitriss, weil er ihm nach hetzen wollte. Ich nahm damals die Leine kurz, zerrte meinen Hund mit zurück zum Auto und sprach kein Wort mehr mit ihm. Was hat er gelernt? Jedenfalls nicht, dass er Hasen in Ruhe anschauen darf. Sondern vielleicht, dass Frauchen heute wieder komisch drauf ist.
Inzwischen weiß ich, dass Jagdverhalten einfach zu unseren Hunden gehört. Dafür muss es sich beim Hund nicht mal um eine Jagdhunderasse handeln. Jeder Hund kann eine große Portion Jagdleidenschaft mitbringen. Denn das wurde Jahrtausende so gewollt.
Jagen und Wachen
Jagen und Wachen sind typische Eigenschaften unserer Hunde. Einem Hund das Jagen zu verbieten wäre fast so, als würde man einem Fisch das Schwimmen untersagen. Das gleiche gilt für das Wachen. Das Bewachen des eigenen Grundstücks gehört für fast alle Hunde zum normalen Verhalten. Auch wenn sie sich über Besucher freuen, bellen viele Hunde Ungewöhnliches am Fenster, an der Haustür oder am Gartenzaun an.
Über das Wachen findest du hier einen Blogartikel: Wie bringe ich meinen Hund zum Schweigen?
Unterdrücken wir über Strafe das Verhalten, das für den Hund so unglaublich selbstverständlich ist, führt das zu neuen Verhaltensproblemen.
Hunde, die entspannt und gut ansprechbar sind, können natürlich auch Jagdleidenschaft in sich haben, aber sie haben nicht ganz die selbe Dringlichkeitsstufe dabei wie die Exemplare, die sich tatsächlich schreiend in die Leine hängen. Manch ein Hund läuft gerne mal ein paar Meter hinter einem Reh her, aber kehrt sehr bald um und fragt seinen Menschen:“Was machen wir jetzt?“
Probleme macht das Jagdverhalten erst, wenn der Hund es als überaus wichtig erachtet. Gleichzeitig sind das die Hunde, deren Menschen sich eine Knopf wünschen, um das Jagen abstellen zu können.
Wenn du auch zu diesen Menschen gehörst, zeige ich dir im Folgenden, was du genau tun kannst, um mit dem Verhalten deines Hundes umzugehen.
Die Ablenkungsskala lesen
Du kannst nicht trainieren, wenn dein Hund schreiend in der Leine hängt. Sondern du trainierst alle wichtigen Signale zuerst ohne Ablenkung, und fügst nach und nach stärkere Ablenkungen hinzu. Soweit klar, oder?
Das Problem kommt dann, wenn man bemerkt, dass wir keine Skala sehen, wie groß die Ablenkung gerade ist. Es wäre so schön, wenn auf dem Hund angezeigt würde, auf welcher Stufe der Erregung er sich gerade befindet. Aber mit etwas Übung kannst du das am Verhalten ablesen.
Grace war heute bei einer Skala von 1-10 gefühlt auf 11. Da ich das Tier kurz gesehen habe, wie es davon sprang, kann ich ihre Aufregung nachvollziehen. Manche Menschen würden vermutlich da stehen, und zu ihrem Hund sagen: „Aber da ist doch nichts!“ und der Hund würde sich in Gedanken an die Stirn tippen….
Wenn du lesen lernen willst, wie groß die Ablenkung gerade ist, beobachte deinen Hund bei seinen Tätigkeiten.
Frage hier und da ein sehr einfaches Signal ab, das ihr gut geübt habt. Frage aber nur, wenn du noch glaubst, dass dein Hund es befolgen kann. Wenn du sicher bist, dass es nicht klappt, oder dein Versuch gescheitert ist, merke dir die Situation als „noch zu schwierig“.
Manchmal kannst du vielleicht etwas weg gehen von der Stelle, und dann üben. Dann kannst du einen Schritt in Richtung Ablenkung gehen, und wieder üben. Höre rechtzeitig auf, und belohne deinen Hund mit etwas, was er wirklich liebt.
Willst du mehr lesen zum Thema? Wie du erfolgreich an Ablenkungen trainierst
Signale üben und einfangen
Ich trainiere regelmäßig folgende Signale:
- Umorientierung & Rückruf
- Sitz auf Entfernung (wo sie sich gerade befindet)
- Stopp (Stehen bleiben)
- U-Turn (Schnelles Umkehren mit mir gemeinsam, rennen)
- Kehr um (einfach in die andere Richtung gehen, schnüffeln erlaubt)
- Raus da (raus aus einem Feld oder Dickicht)
- Auf den Weg
- Schau (Blickkontakt)
Folgende Verhalten fange ich ein mit dem Markersignal und einer passenden Belohnung:
- scan (schauen nach sich bewegenden Reizen)
- Stopp
- Blickkontakt
- schnüffeln (an lockerer Leine)
- buddeln
Eine passende Belohnung ist dabei häufig das Verhalten selbst. Darum benenne ich es, während Grace es tut. Also zum Beispiel wenn Grace in den Wald schaut, um ein Reh zu entdecken, sage ich „scan“ und lobe sie. Sie darf weiter gucken, oder wir gehen gemeinsam weiter, was für sie auch eine Belohnung ist. Schließlich kommen immer neue tolle Gerüche am Weg, die man erkunden kann.
Mehr über das Einüben von Signalen erfährst du hier: So baust du Signale auf
Warum Futter oft kein Verstärker ist
Bei der Bearbeitung von Jagdverhalten wird Futter von den Hunden oft nicht angenommen. Dabei zeigt uns der Hund keinen „Stinkefinger“, auch wenn sich das so anfühlt, wenn man die Leckerchen selbst wieder einsammelt….
Fressen ist nicht die Motivation des Verhaltens. Kein Hund jagt, weil er Hunger hat. Das Verhalten ist vollkommen losgelöst von Hungergefühlen, und wird angeregt von Gerüchen und Bewegungen.
Bei vielen Jagdhunderassen ist es sogar geradezu weggezüchtet worden, dass der Hund frisst im jagdlichen Zusammenhang. Denn die Hunde sollten den Fasen, den Hasen oder die Ente ja nicht selbst fressen, sondern unversehrt apportieren, wenn sie geschossen waren. Hunde, die das Wild anrissen, wurden einfach ausgemustert. Da war man wenig gefühlsbetont…
Hinter den Kulissen sorgen innere Vorgänge dafür, dass während aufregender Jagdsituationen nicht gefressen werden kann. Jagen erzeugt positiven Stress, und der wird angeregt durch die Ausschüttung diverser Stoffe im Körper. Hinter jedem Verhalten stehen solche inneren Vorgänge, so dass man immer gewiss sein kann: Der Hund kann gerade nicht anders reagieren, da werden gerade Hormone und Botenstoffe ausgeschüttet, der muss so reagieren!
Warum das konditionierte Entspannungssignal hier nur wenig hilft
Ich trainiere regelmäßig unser konditioniertes Entspannungssignal. Warum nützt es mir hier im Jagdverhalten nichts?
Das sind ähnliche Gründe wie beim Ablehnen von Futter. Der Hund ist in einem Modus, der SEEKING genannt wird. Das ist ein Begriff, der eine bestimmte Gefühlslage beschreibt. Auf menschliche Situationen übertragen könnte man sagen: „Welt, was hast du mir zu bieten?“
Ich kenne so ein Gefühl, wenn ich im Urlaub in einer fremden Stadt bin, und morgens losziehe, um alles zu erkunden. Glücksgefühle, leichte Spannung, Vorfreude – das alles gehört dazu. Und so ähnlich fühlen sich unsere Hunde.
Genau wie ich nicht zu stoppen wäre beim Erkunden meiner Stadt, wenn mir jemand sagen würde: „Entspann dich doch mal!“ – genauso lassen sich Hunde nicht vom Jagen abhalten durch ein Entspannungssignal. Denn auch sie würden sagen: „Hey, ich bin doch nicht unentspannt, es ist nur so toll hier! Lass mich weiter machen! Und mach einfach mit!“
Dennoch versuche ich, so oft es geht meinen Hund an Ablenkungen zu entspannen. Denn auch wenn ich nicht auf ein Wort einen entspannten Hund bekomme, möchte ich Grace helfen, die zu hohe Erregung zu senken. Ich nutze dafür oft die Isometrischen Übungen. Lies hier darüber: Also doch mit Druck!
So schaffst du die Hürde „Aufregung“
Die Aufregung beim Jagdverhalten ist also nicht per Knopfdruck weg zu klicken. Wir müssen damit leben. Der wichtigste Schritt, damit entspannt leben zu können, dass der Hund vor Freude tobt, ist der: Bleib selbst entspannt, und schimpfe nicht mit deinem Hund!
Dein Schimpfen und eventuelle Strafen werden kaum wahrgenommen, weil sich ein Jagdhund nicht von einem Dornenpiekser abhalten lassen sollte, das Wild aufzustöbern. Jagdlich ambitionierte Hunde sind meistens keine Mimosen, was körperliche Schmerzen angeht. Zumindest in dieser Situation! Zu Hause auf dem Sofa oder beim Tierarzt kann das anders aussehen.
Ich hatte heute eine Situation, die noch zu schwierig für Grace war. Sie konnte mir in dem Moment keinerlei Aufmerksamkeit schenken, sondern hin kreischend in der Leine.
Etwas weg von den ganz starken Reizen „funktionierte“ alles wieder. Dort begann ich mit meinen Übungen, und habe mich dann langsam in die Richtung der starken Reize vorgetastet.
Auf diese Weise habe ich mit ihr üben können, mir auch im jagdlichen Modus Aufmerksamkeit zu schenken.
Keine Niederlage, sondern eine Information
Wenn du in einer solchen Situation bist, dass dein Hund nur über körperliche Kraft zu halten und zu führen ist, kannst du warten, bis er sich entspannt, oder etwas aus der starken Ablenkungszone weggehen, bis wieder eine Kontaktaufnahme möglich ist.
Das ist keine Niederlage, sondern eine Information. Dein Hund hat dir gezeigt, dass es viel zu aufregend war, und er keine Möglichkeit gesehen hat, dir Aufmerksamkeit zu schenken.
Trainiere weiter in entspannten Situationen. Taste dich nach und nach an die aufregenden Stellen heran.
Statt Abstellknopf viel Freude miteinander
Du weißt spätestens jetzt, dass es keinen Knopf gibt, an dem du das Jagdverhalten ausstellen kannst. Keine Strafe ist hoch genug, um einen Hund mit dem Hobby Jagen davon abzuhalten, es auszuführen.
Wenn du dich aber darauf einlässt, und mit anstatt gegen deinen Hund trainierst, wirst du mit ihm viel Spaß haben. Dabei solltest du daran denken, dass es für ihn zunächst vor allem frustrierend ist, das Jagdverhalten nicht vollständig ablaufen lassen zu dürfen. Wild riechen und sehen, es aber nicht hetzen dürfen, ist sehr anstrengend, und fordert viel Impulskontrolle. Nach und nach werdet ihr gemeinsame Lösungen finden, wie bestimmte Suchaufgaben oder Hetzspiele, die Teile des Jagens nachahmen. Je mehr solche Jagdersatz-Spiele ihr später zur Verfügung habt, um so glücklicher ist dein Hund.
Und glaube mir: Auch dein Hund wird begeistert sein, wenn du ihm signalisierst, wie toll du seine Anzeigen von frischen Fährten findest, und wie stolz du bist, wenn er dir wieder einen Wildwechsel gezeigt hat, den du ohne ihn garantiert übersehen hättest.
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So wird dein Ruf unwiderstehlich: Rückruf-Magie