„Dir passiert doch nichts!“
Auf dem Weg zu meinen Kunden fuhr ich noch schnell am Getränkemarkt vorbei, um eine Kiste Wasser zu besorgen. Als ich durch die Schiebetür spazierte, merkte ich sofort, dass hier etwas Besonderes vor sich ging.
Die beiden jungen Verkäufer standen an der linken Seite und schauten ganz nach rechts neben der Tür. Von dort hörte ich eine Stimme sagen:“Siehst du, da kommt wieder ein Wagen, dir passiert doch nichts!“
Ich wusste im selbem Moment, dass das nicht stimmt. Und dass da ein Hund sein würde, der Angst hat.
Genau so war es. Der Hund kauerte neben einem Kühlregal mit Erfrischungsgetränken. Er machte sich so klein, wie es nur irgendwie ging. Seine Bezugsperson sprach sehr liebevoll mit ihm, was aber nicht zu dem ersehnten Mutanfall führen wollte.
Ich fragte, ob der Hund nur Angst vor den Wagen hätte oder auch vor Menschen. Die Verkäufer sagten mir, auch vor Menschen. „Dann sollten wir ein wenig weg gehen, damit es dem Hund besser geht“ meinte ich. „Naja, aber irgendwann muss der das ja lernen!“ sagte die Verkäuferin.
Ich ging erstmal mein Wasser holen und hörte dabei, wie die Halterin immer wieder ihrem Hund klarmachen wollte, dass ihm doch nichts passiert. An der Kasse, ca. 4 m vom Hund entfernt, sah ich, wie verängstigt der Hund noch immer dort lag.
Während ich bezahlte, sprach ich mit der Halterin des Hundes. Ich erklärte ihr, dass der Hund sich auf diese Weise nicht mehr an die Dinge gewöhnen könne, weil ihm gerade sehr viel passiert: Er hat große Angst.
Ich fühlte, dass die Frau mir zuhörte und nicht abgeneigt reagierte. Also fuhr ich fort: „Besser wäre es, wenn Sie das mit kleineren Schritten trainieren.“ „Das heißt?“ fragte sie.
Ich begann eine kurze Erklärung, wie ich das Training aufbauen würde. Sie ging sofort mit nach draußen, und zeigte auf eine Stelle einige Meter abseits der Tür, mit der Frage, ob sie sich dort hinstellen sollte zum Üben. Ja, das fand ich eine gute Idee. Der Hund zeigte draußen eine leicht entspanntere Körpersprache, und ich konnte mir vorstellen, dass er an dem gezeigten Ort noch entspannter sein würde.
Wir haben noch eine Weile geplaudert, und weil sie so ehrlich interessiert reagierte, entschied ich mich, mich als Hundetrainerin zu „outen“ und meinen Namen zu nennen. Wenn sie Hilfe braucht, würde sie sich melden, sagte mir die Dame. Und so gingen wir auseinander und ich nahm mir vor, endlich mal einen Blogpost über Angst zu schreiben.
Was ist Angst?
Angst ist ein natürliches Verhaltensprogramm, ein emotionaler Zustand, der durch die Wahrnehmung einer Bedrohung ausgelöst wird. Angst ist ein biologisches Programm und schützt vor Verletzung und Tod. Sie hilft dem Individuum, sich an die Herausforderungen der Umwelt anzupassen.
Angst hat in der Evolution eine wichtige Funktion, denn sie sorgt für das Überleben des Einzelnen innerhalb einer Population. Folglich trägt Angst bei zum Fortbestehen der Population oder der Art. Durch die Funktion der Verhaltensanpassung können Veränderungen der Umwelt besser bewältigt und überlebt werden.
Wie viel Angst ist normal?
Manche Hunde neigen eher zu Angstverhalten als andere. Auch das ist eine Funktion der Evolution, denn die Natur braucht sowohl ängstliche, zurückweichende Typen als auch solche, die bei Angst nicht zurückweichen, sondern angreifen. Wenn beides gleichermaßen vorhanden ist, sind die Überlebenschancen der Art am größten.
Angst ist eine normale Reaktion auf bedrohliche Ereignisse, und diese Reaktion ist individuell unterschiedlich schnell und stark auslösbar.
Darum kann man nicht fragen, wie viel Angst „normal“ ist. Es gibt sehr ängstliche Typen auf der einen Seite der Skala, und ganz wenig ängstliche auf der anderen Seite, und jede Menge Variationen dazwischen.
Wann wird Angst gefährlich?
Die individuellen Unterschiede in der Reaktion auf bedrohliche Reize führen unter Umständen dazu, dass aus Verhaltensanpassungen echte Verhaltensstörungen werden. Solche Angstreaktionen beeinträchtigen die Lebensqualität des Hundes und seiner Bezugspersonen stark. Ängstliche und nervöse Hunde können eine ganze Reihe von Verhaltensproblemen und gesundheitlichen Störungen entwickeln. Dann wird die Angst zu einer Gefahr für die Gesundheit des Hundes.
Eine völlig andere Art der Gefahr geht von Hunden aus, die gelernt haben, dass ihre Angstreaktion nicht funktioniert. Häufig übergehen Bezugspersonen Angstreaktionen mit leichten Worten und belassen den Hund weiter in der beängstigenden Situation. Je nach der Situation kann der Hund dadurch lernen, dass seine einzige Möglichkeit der Bewältigung der Situation darin besteht, aggressiv zu reagieren. Dann kann die Angst eine Gefahr für die Umwelt werden.
Wovor haben Hunde Angst?
Es gibt Angstauslöser, die kein Hund durch Erfahrung lernen muss. Sie sind angeboren, bzw. entwickeln sich in den ersten Lebenswochen. Zum Beispiel zeigen Welpen kurz nach dem Beginn ihrer Mobilität Angst vor der Höhe, ohne jemals zuvor gestürzt zu sein.
In der Fachsprache nennen wir solche Ängste „unkonditionierte Ängste“.
Weitere unkonditionierte Ängste sind:
- Schmerz
- laute Geräusche
- ungewohnte Reizintensitäten
- neue Reize
- unbekannte Situationen
- schnelle Bewegungen auf das Tier zu
Unkonditionierte Ängste haben ihren Ursprung in der stammesgeschichtlichen Entwicklung.
Zusätzlich gibt es die Ängste, die durch Lernprozesse erworben werden. Solche konditionierten Auslöser sind durch Erfahrung mit Bedrohung verknüpft und tief im emotionalen Gedächtnis gespeichert.
Merke:
Angst ist grundsätzlich angeboren, weitere Auslöser von Angst können durch Erfahrung dazu kommen.
Was passiert im Hund bei der Angstreaktion?
Der Hund nimmt mit seinen Sinnesorganen Reize in der Umwelt wahr, die in einem bestimmten Teil des Gehirns, dem Mandelkern, emotional bewertet werden. Dabei gibt es sozusagen zwei Pfade für die Reizweiterleitung in den Mandelkern: Eine längere Route und eine Abkürzung, die für die schnelle, unbewusst entstehende Angstreaktion verantwortlich ist.
Die längere Route transportiert einen Reiz von den Sinnesorganen zum Thalamus, der tief im Gehirn verborgen liegt. Vom Thalamus aus wird der Reiz nach oben in die Großhirnrinde geleitet. Dort wird er analysiert. Bedeutet der Reiz eine Gefahr, so wird diese Information an den Mandelkern weitergeleitet. Dort entsteht die Angst. Dieser längere Pfad dauert 24 Millisekunden!
Der schnelle Weg dauert nur 12 Millisekunden. Dabei wird der Reiz von den Sinnesorganen über den Thalamus direkt in die Mandelkerne weiter geleitet.
Mit dem Wissen versteht man recht gut, warum die erste, unbewusste Angstreaktion schneller abläuft als eine bewusst gesteuerte Reaktion. Der Weg ist einfach der schnellere, Denken wird sozusagen in der ersten Schreck“sekunde“ nach hinten gestellt, damit eine lebensrettende emotionale Reaktion stattfinden kann, wenn nötig.
Flucht oder Kampf
Die Emotion Angst verknüpft den erlebten Reiz (die empfundene Bedrohung) mit Aktivitäten des autonomen Nervensystems. Fast jeder kennt die beiden großen Bereiche dieses Systems, Sympathicus und Parasympathicus. Ersterer ist für die Reaktion Flucht oder Kampf zuständig, während der zweite dafür sorgt, dass nach der Reaktion das innere Gleichgewicht wieder hergestellt wird.
Ein wahrgenommener Reiz kann positiv oder negativ empfunden werden. Ein Reiz, der das innere Gleichgewicht zum wanken bringt, wird negativ empfunden, und einer der zu neuem Gleichgewicht führt, als positiv. Solche positiven Reize verhelfen dem Hund zu einem Sicherheitsgefühl. Unser konditioniertes Entspannungssignal ist so ein Reiz, der dem Hund Sicherheit gibt und über den Parasympathicus das innere Gleichgewicht wieder herstellt.
Eine Aktivierung des Sympathicus wird mit einer Stressreaktion verbunden. Stress ist zwar keine Emotion, ist aber sehr eng mit Emotionen verknüpft. Sobald eine Stressreaktion abläuft, verändern sich Emotionen.
Angst und Stress sind ebenso eng verknüpft, sie laufen auf den gleichen Pfaden im Gehirn ab. Sie haben beide die Funktion, spezielle Prozesse von Erregung und Aufmerksamkeit zu erhöhen, damit der Körper auf eine schnelle Abwehrreaktion vorbereitet wird. Beide sind Zustände, die viel Energie benötigen. Aber Angst ist nicht das gleiche wie Stress, und Stress ist nicht unbedingt immer Angst.
Wie sieht ein ängstlicher Hund aus?
Diese Frage ist äußerst wichtig, denn wir haben ja kein Emotions-Thermometer am Hund, sondern können seine Befindlichkeit nur am Verhalten und der Körpersprache erkennen. Darum ist eine gute Beobachtung im ersten Schritt sehr wichtig.
Wir können an 5 verschiedenen Verhaltensreaktionen ablesen, wie es dem Hund geht.
- Körperhaltung
- Mimik
- Lautäußerungen
- Physiologische Zeichen (= Stressreaktion)
- Bewegungsmuster
Körperhaltung
- Körperschwerpunkt nach hinten gerichtet
- geduckt
- Rücken aufgebogen
- Hinterbeine eingeknickt
- Rute angelegt oder unter den Bauch gezogen
- an Flächen angedrückt
Der Hund im Getränkemarkt lag geduckt da, machte sich so klein wie er nur konnte. Er drückte sich fest an den Boden und seitlich an den Getränkekühlschrank.
Mimik
- Ohren nach hinten gelegt
- Blick abgewendet
- Lefzenwinkel lang nach hinten gezogen
- Kiefer angespannt, Maul geschlossen
Lautäußerungen
- Winseln
- Bellen
- Schreien
- Jaulen
- Knurren
Fast jede Lautäußerung kann also auf Angst basieren! Besonders Knurren sollte unsere Aufmerksamkeit bekommen, denn der Hund warnt durch sein Knurren sauber und deutlich, dass er mehr Abstand möchte. Das zu ermöglichen ist unsere Pflicht. Geschieht das nicht, wird der Hund lernen, dass Angriff die beste Verteidigung ist, weil seine Zeichen nicht beachtet wurden.
Physiologische Zeichen
Bei den Physiologischen Zeichen der Stressreaktion finden wir alles, was wir von uns auch kennen, wenn wir aufgeregt sind. Zum Beispiel:
- erweiterte Pupillen
- Aufstellen der Nackenhaare
- Schnellerer und kräftigerer Herzschlag
- Hecheln (gut, das tun wir nicht!)
- Schwitzen über die Pfotenballen
- Urinieren und Koten
Bewegungsmuster
Die gezeigten Bewegungsmuster sind die bekannten Reaktionen wie
- Flüchten, sich Verstecken, Eingraben
- Übersprungverhalten
- Einfrieren
- defensiv aggressives Verhalten
- Totstellreflex
Wie Lernprozesse Angst vergrößern können
Durch Lernen kann die Liste der Angstauslöser enorm verlängert werden. Wir sagen:“Angst zieht Kreise“ und meinen damit, dass aus einer zuerst mit einem einzigen Auslöser verknüpften Angst eine weitaus größere Angst vor sehr vielen Auslösern entstehen kann.
Dazu muss der Hund in einer Angstauslösenden Situation nur einen weiteren Reiz mit der Emotion verknüpfen, schon führt auch der neue Reiz alleine zu der Angstreaktion. Ein typisches Beispiel ist der Besuch beim Tierarzt.
Zuerst geht der Hund ohne Angst zum Tierarzt, sofern er nicht schon die Gerüche mit Angst verknüpft. Nach einer unangenehmen Behandlung möchte er nicht mehr in das Behandlungszimmer, dann gar nicht mehr ins Haus, und später weiß er schon, dass es zum Tierarzt geht, wenn wir nur diese Straße entlang fahren. Die Angstreaktion beginnt immer früher.
Warum sich dein Hund nicht daran gewöhnt
Viele glauben, dass sie den Hund an die Angst auslösenden Dinge gewöhnen können, indem sie ihn diesen Dingen lange genug aussetzen. Warum klappt das nicht?
Ganz einfach. Gewöhnung kann nur eintreten, wenn der Reiz nicht relevant ist. Ein Welpe, der ein Haushaltsgeräusch hört, und davon nicht erschreckt wird und keine Angst davor hat, wird sich nach einiger Zeit daran gewöhnen, weil das Geräusch nichts mit ihm zu tun hat.
Genau so gewöhnen wir uns an durchfahrende Züge, wenn wir an Bahngleisen wohnen.
Haben wir aber einmal Angst, so funktioniert eine schlichte Gewöhnung nicht mehr. Sonst würde ja jede Angst von alleine durch den Reiz selbst wieder verschwinden. Angst vor Spinnen müsste verschwinden, indem du der Hausspinne lange genug zuschaust. Wer aber wirklich Angst hat vor Spinnen wird das nicht können. Das funktioniert nur dann, wenn noch keine Angst entstanden ist.
Es macht also gar keinen Sinn, sich genau dort hinzustellen mit seinem Hund, wo dieser bereits eine starke Angstreaktion zeigt, und dann immerzu zu sagen:“Dir passiert doch nichts, du brauchst doch keine Angst zu haben!“
Dem Hund passiert gerade etwas!
Die Angstreaktion ist äußerst unangenehm. Kein Hund kann Angst mit Absicht herbeiführen, ebensowenig wie wir selbst.
Ein Lebewesen, das eine starke Angstreaktion zeigt, kann sich nicht mehr daran gewöhnen, und es hilft ihm auch nicht, in dem Moment in den Arm genommen oder mit Worten getröstet zu werden.
Die Arbeit an einer Verhaltensänderung mit ängstlichen Hunden und Angstverhalten ist anspruchsvoll.
Es ist wichtig, sehr strukturiert vorzugehen, und einen Plan zu erstellen.
Management
Ein erster Schritt ist Management als Übergangslösung. Solche Maßnahmen dienen der Soforthilfe, sowohl als Hilfe für das Nervenkostüm des Hundes als auch des Menschen.
Solche Management-Maßnahmen können der Aufbau eines sicheren Platzes im Haus sein, damit der Hund entspannte Ruhephasen bekommt, in denen Erholung wirklich möglich ist.
Für Hunde, die schnell von der Angst- zu einer Aggressionsreaktion umschalten, empfiehlt sich der Einsatz eines Maulkorbes oder / und eines Kopfhalfters für die Gewährleistung der Sicherheit und die innere Sicherheit der Bezugspersonen.
Die Angst auslösenden Situationen sollten nur zu den Zeiten des Trainings besucht werden. Wenn sie ständig auftreten, ist eine Bearbeitung so gut wie nicht möglich.
Der sichere Platz im Haus, gewisse tägliche Routinen, klare Signale und Ankündigungen von Handlungen helfen dem Hund, so wenig Kontrollverlust wie möglich zu erleben. Das führt längerfristig zu einem stabileren inneren Gleichgewicht, was wiederum bei der Bearbeitung der Ängste hilft.
Was du wissen musst über Angst
- Angst ist eine Emotion mit einem sinnvollen Hintergrund
- Erkenne Angst so früh wie möglich durch Beobachtung der Körpersprache
- Es gibt einen Zusammenhang zwischen Angst und Lernen: Angst kann durch Lernen verschlimmert werden, Lernen kann neue Ängste erzeugen. Aber Lernen kann auch Ängste verringern, und Ängste können verlernt werden!
- Ängste verlieren sich nicht von selbst! Auch und gerade bei jungen Hunden ist es wichtig, die Angst ernst genug zu nehmen, und daran von Beginn an zu trainieren
- Angstverhalten hat nichts mit Rangordnung zu tun!
- Angst kann nicht absichtlich herbeigeführt werden vom Hund!
- Jede Reaktion des Menschen, die die ängstliche Erregung steigert, verstärkt die Angst des Hundes!
- Bestrafung des Angstverhaltens und Verhinderung von Meideverhalten gehören dazu
- Streicheln mit bedrohlicher Körpersprache kann den Hund ebenfalls zusätzlich ängstigen
- Über den Hund beugen
- Berühren von schmerzenden Körperstellen
- Einschränken des Meideverhaltens, in die Ecke treiben, festhalten, umarmen, hochheben
- Aufmerksamkeit geben und zugleich in die Situation zwingen
- Es ist wichtig, realistische Erwartungen an das Training zu haben – nicht immer ist alles möglich. Es gilt, bestimmte Vorraussetzungen zu erfüllen, um die Angst gut behandeln zu können
- Die Auslöser müssen vollständig bekannt sein
- Der Hund muss diesen Auslösern kontrolliert begegnen können
- Die Angstreaktionen des Hundes müssen durch die Intensität der Auslöser veränderbar sein (Distanz vergrößern/verkleinern; Lautstärke verringern/vergrößern;)
- Der körperliche Zustand muss Lernen möglich machen – Bestimmte Erkrankungen begünstigen das Entstehen von Angstreaktionen.
Jetzt weißt du die wichtigsten Dinge über Angst.
Im nächsten Blogbeitrag geht es noch mal ausführlicher um das Training.
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2 Antworten
Tolle Arbeit, super recherchiert. Wäre es ok, wenn wir diesen Artikel retweeten?
Hat mir sehr geholfen das Verhalten meines Hundes zu verstehen.